Schwierige Übergänge für neurodivergente Kinder finden sich überall. Vielleicht kennst du eine dieser Situationen?
Du hast mit deinem Kind eins-zu-eins gespielt und mit ihm Zeit verbracht. Es war für euch beide sehr schön. Dann ist das Spiel zu Ende und du wendest dich einer anderen Sache zu, die du noch erledigen musst, sagen wir mal das Essen kochen. Kurze Zeit darauf kriegt dein gerade noch so ausgeglichenes Kind einen Wutanfall durch eine Kleinigkeit ausgelöst. Es hat sich gar nicht mehr unter Kontrolle, schreit, schmeißt Dinge, an Kochen ist nicht mehr zu denken.
Du hast einen schönen Ausflug mit einer befreundeten Familie geplant, alle freuen sich darauf, auch dein neurodivergentes Kind. Aber als ihr ankommt, ist dein Kind völlig überdreht, ärgert alle anderen Kinder, überschreitet Grenzen, rennt wie wild herum und du fragst dich, ob es ein Fehler war sich zu verabreden.
Du hast endlich einen Platz auf der Schule für dein Kind gefunden, von der du überzeugt bist, dass sie ihm gut tut. Seit einigen Wochen geht dein Kind jetzt auf diese Schule, aber es kommt einfach nicht zurecht. Jeden Nachmittag und Abend gibt es Meltdowns, ständig zettelt dein Kind Streits mit den Geschwistern oder mit dir an, nichts kann man ihm recht machen. Und du fragst dich, ob das die richtige Entscheidung war mit dieser Schule.
Übergänge sind Herausforderungen für neurodivergente Kinder
All diese Situationen haben eins gemeinsam: Der Übergang ist die Schwierigkeit. Und eine weitere Gemeinsamkeit ist, dass sich das Elternteil fragt, ob es etwas falsch gemacht hat. Und genau deshalb möchte ich heute über Übergänge schreiben. Denn wir unterschätzen oft, wievielten Übergängen unsere Kinder (und natürlich auch wir) täglich begegnen. Von den kleinen, wie Ortswechsel, zum Beispiel Schule-Zuhause oder Tätigkeitswechsel, zum Beispiel Video spielen – Hausaufgaben machen (das ist schon ein sehr herausfordernder!) bis zu den größeren Übergängen, wie Ferien zu Schule oder Jahreszeitenwechsel bis zu den ganz großen wie zum Beispiel ein Umzug. Während uns die großen meistens bewusst sind, werden die kleinen oft gar nicht wahrgenommen und damit die Situation fehl interpretiert.
Nehmen wir zum Beispiel die erste Situation. Hier fragt man sich als Eltern oft: Habe ich nicht gerade deinen Akku aufgeladen mit unserer gemeinsamen Zeit? Ist nicht die eins-zu-eins Zeit für Kinder so wichtig? Tut dir das nicht gut? Und die Antwort auf diese Frage ist: Ja! Du hast den Akku deines Kindes aufgefüllt und es tut ihm sehr gut deine Zeit und Aufmerksamkeit zu bekommen. Und nein, es ist auch nicht z wenig gewesen. Hättet ihr noch eine Stunde länger gespielt, wäre es vielleicht zu genau derselben Situation gekommen.
Was hier eigentlich passiert, ist folgendes: Dein Kind ist in einem sehr angenehmen, co-regulierten Zustand mit dir. Dann ist dieser Zustand vorbei und es ist mit mehreren Herausforderungen konfrontiert: Was soll ich jetzt machen? Wo ist mein Anker hin, der mir (und meinem Nervensystem) gerade Sicherheit gegeben hat? Wie und wo kann ich jetzt meinen eigenen Anker setzen, um mich wieder sicher zu fühlen?
Bei dem Ausflugsbeispiel ist es dasselbe in anderer Darstellungsform: dein Kind versucht sich in dieser neuen Situation auszurichten und zu regulieren. Hier ist es sogar mit gleich mehreren veränderten Komponenten konfrontiert: neue Umgebung, neue Menschen, neue Tätigkeit. Vielleicht saß es gerade noch im Auto, auf dem gewohnten Platz, mit den gewohnten Menschen und mit Hörspiel auf den Kopfhörern. Es ist also von einer sehr regulierten und absehbaren Situation in eine komplett neue „geworfen worden“.
Und dann gibt es wie beim Beispiel drei, die großen Übergänge, die einfach viel Zeit brauchen, so viel, dass wir als Eltern manchmal die Situation als solche hinterfragen, obwohl das Kind sich noch mitten im Übergang befindet.
Was hilft in all diesen Situationen?
Gib deinem Kind Zeit.
Mach dir bewusst, dass Übergänge für neurodivergente Kinder ganz besonders herausfordernd sind. Frag dich, ob die Situation an sich wirklich das Problem ist oder ob es einfach „nur“ der Übergang sein kann. Wenn es der Übergang ist, dann gib deinem Kind die Zeit sich in die neue Situation zu finden. Es ist kein großer Aktionismus deinerseits notwendig, du musst die neue Situation nicht fluchtartig wieder verlassen, sondern Zeit lassen.
Was kannst du tun, um Übergänge für dein Kind angenehmer zu machen?
- Veränderungen absehbar machen für dein Kind. Das kannst du zum Beispiel durch visuelle Planer unterstützen. Ein Monatsplan gibt einen großen Überblick, ein Wochenplan nimmt die kommenden Tage ins Visier. Kleineren Kinder kann ein Wochenplan mit Routinekarten sehr gut helfen.
- Zeit sichtbar machen. Das geht zum Beispiel sehr gut mit dem Time Timer. Im Prinzip ist das nichts anderes als eine Eieruhr, aber, und das ist entscheidend, die Zeit ist darauf sichtbar. Ein farbiger Kreis, der immer kleiner und kleiner wird. Wenn die Farbe leer ist, ist die Zeit abgelaufen.
- Google Maps nutzen. Wie sieht das Restaurant aus, in das wir gehen? Was steht auf der Speisekarte? Gibt es einen Spielplatz? Wer wird alles dabei sein? All diese Dinge beruhigen das Nervensystem neurodivergenter Kinder (und Erwachsener).
- Regulationstools oder sensorische Anker. Alle Dinge, die den Übergang etwas glätten können für dein Kind, also zum Beispiel Fidgets, Kopfhörer, bestimmte Spiele oder Tätigkeiten. Mit sensorischen Ankern meine ich Dinge, die Sinne binden und gleichzeitig gewohnt sind. Das kann zum Beispiel das leckere Zitronenbonbon sein oder der Kaugummi, Mamas Hand oder ein Kapuzenpulli, der Sicherheit gibt.
- Erwartungshaltung. Passe deine Erwartungshaltung der Realität an. Übergänge zu meistern ist ein Teil der exekutiven Funktionen, mit denen fast alle neurodivergenten Kinder zu kämpfen haben. Es ist also völlig normal, dass Übergänge Stresssituationen für euch sind, mit denen man umgehen lernen muss. Mach weder deinem Kind noch dir dafür Vorwürfe. Es befindet sich in einem Lernprozess und gibt sein Bestes!